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Ich setze mich auf Kittys Platz

Kitty hatte sich etwas in den Kopf gesetzt.

Da saß es, und da rumorte es, und eines Tages kam es heraus.

"Mein lieber Johannes -", begann meine Frau harmlos.

Sogar der Klang ihrer Stimme war in dieser Minute einschmeichelnd, das ist er nicht immer. In unseren langen Ehejahren erklingen oft ganz andere Töne. Aber wenn Kitty bei mir etwas durchsetzen will, beginnt sie immer mit ihrer Sonntagsstimme, die sie sich noch von damals bewahrt hat, als sie mich in unserer ersten Jugendblütenpracht fragte: "Bist du eigentlich gegen das Heiraten, Johannes?"

Ich war es nicht. Ich war weder dagegen noch überhaupt gewappnet gegen diese Frühlingsstimmenfrage. Ich tappte hinein, die Falle schloss sich über mir, und ich hatte jetzt neben dem Speck den Käfig. Jedoch, ich muss zugeben, es ist eine recht harmonische und friedliche Ehe daraus geworden.

"Mein lieber Johannes", sagte also Kitty eines Morgens beim Frühstück und reichte mir eine Semmel, "warum sitzest du nicht einmal anders?"

"Wieso? Sitze ich schief?"

"Weder schief noch falsch", sagte Kitty, "aber du sitzest seit zehn Jahren immer auf dem gleichen Platz am Tisch. Du sitzest mit dem Rücken zur Wand, hast dir sozusagen die Schönseite am Tisch ausgewählt, den Platz mit dem Blick aus dem Fenster, der Tisch ist so gedeckt, dass er von dir aus den schönsten Anblick bietet, sogar die Blumen in der Vase wenden dir ihre Köpfe zu, und vor deinen Augen breitet sich unser einziger Teppich aus und lässt dich wohlhabend erscheinen - wie wäre es, wenn wir zwei einmal den Platz tauschen würden? "

"Ich soll dort sitzen, wo du sitzest?"

"So ist es gemeint", sagte Kitty.

Ich wusste zwar noch nicht, warum es so gemeint war. Ich habe mir abgewöhnt, darüber zu grübeln. Ich erhob mich und tauschte mit Kitty den Platz.

Ich saß kaum fünf Minuten - die Kinder löffelten rechts und links von mir ihr Sonntagsei und die Enkel ihren Brei -, da versank ich in tiefe Bitternis. So kann unser Frühstückstisch also auch aussehen, wenn man nicht an der Schönseite sitzt? Der ganze Zauber unseres Frühstücks war dahin. Lasst es mich schildern, was ich sah und erlebte.

Ein Frühstücksgeschirr ist nicht für die Ewigkeit bestimmt. Es hat seine glänzende Jugend, seine oft gespülten hohen Jahre, sein müdes Alter. Porzellan ist Sache der Frau, sagt der Mann, aber wenn von sechs Tassen nur noch eine einzige einen Henkel hat, die anderen ihn entbehren und jede oben am Rand ausgeschartet ist, die Untertassen einen Sprung aufweisen, der Henkel der Kaffeekanne schon zweimal grob gekittet ist und beim Sahnekännchen ganz fehlt, das fällt einem schon auf. Bisher wusste ich nichts davon. Ich bekam stets liebevoll die letzte heile Tasse hingestellt, das übrige Geschirr in ein günstiges Licht gestellt, die fehlenden Henkel nach hinten gedreht und vor mir versteckt, meine Frau hatte die Kinder darauf geradezu einexerziert, damit Vater sich nicht ärgert - das alles sah ich jetzt, wo ich mir quasi gegenübersaß, zum ersten Mal. Ich sah noch mehr, was mich erschreckte: Die Tapete an der Wand war verschossen und verblasst - ich saß sonst immer mit dem Rücken zu ihr und bemerkte so ihre Schäbigkeit nicht -, der Glaskasten auf dem Büfett hatte einen Sprung, und von meinem jetzigen Platz sah unser Teppich, unser gutes Stück, das Zeichen unseres Wohlstandes, plötzlich gar nicht mehr nach Wohlstand aus, er war an einigen Stellen schon recht abgetreten.

"Ich pflege ihn so zu legen, dass der Blick von deinem Platz auf die letzten noch guten Stellen fällt", sagte Kitty, "aber es wird von Jahr zu Jahr schwieriger."

Ich saß in einem völlig veränderten Zimmer und hatte doch nur meinen Platz am Tisch gewechselt. Vielleicht waren die Tassen und die Tapeten und der Teppich schon seit Jahren so abgenutzt, ich hatte es nur in der Gewohnheit des täglichen Anblicks nicht bemerkt. Bemerken wir doch viele Dinge nicht, die sich verändern, während wir immer am gleichen Platz am gedeckten Tisch des Lebens sitzen. Vielleicht sind unsere Ansichten über dies und das schon ebenso vergilbt wie die Tapeten in meinem Zimmer, vielleicht ist unsere Sicherheit und unser Wohlstand ebenso abgetreten und durchlöchert wie der Teppich in meinem Zimmer, sollten wir nicht alles, was wir einmal gelernt haben und täglich als Worte so oft benützen wie die Tassen am Frühstückstisch, durch neue Anschaffungen ersetzen - ich meine, durch neues Nachdenken, Nachlernen - und unserem Sinn durch neue Erkenntnisse und neue Gedanken eine neue Wahrheit geben? Warum soll eine vielstrapazierte Weltanschauung, auf der täglich herumgetrampelt wird, eine längere Lebensdauer haben als ein Teppich? Ein guter Teppich hält ewig, über Generationen, aber einmal muss er doch ersetzt werden. Wird nicht im großen Leben so viel Geschirr zerbrochen und nicht nur der Henkel abgeschlagen? Ein Geschirr, dem Stücke fehlen, ergänzen wir, warum ergänzen wir nicht die zerbrochenen Teile in unserem Denken und in unserem Herzen? Durch neue Erkenntnisse, neue Gefühle, neue Gerechtigkeit? Und wenn wir dann schon beim Entrümpeln sind, wollen wir nicht zuerst unsere Herzen entrümpeln und den Kalk der Vorurteile aus unseren Schädeln räumen, der sich im Lauf eines Lebens dort angesammelt hat? Man muss sich nur einmal auf einen anderen Platz setzen und die Dinge von der anderen Seite ansehen, die liebe Gewohnheit des Sitzenbleibens aufgeben und mit den Augen des anderen unseren Platz im Leben betrachten, den Standpunkt auswechseln, auf dem wir stehen. Es sind nur ein paar Schritte, die wir tun müssen. Tun wir sie. Tun wir sie gleich.

Kitty fragte: "Warum redest du nichts, Johannes? Du pflegst doch sonst immer den Kindern beim Frühstück eine lustige Geschichte zu erzählen?"

Ich sagte: "Ich habe gerade über eine ernste nachgedacht. Aber denkt man sie zu Ende, machen wir vielleicht alle bald wieder glückliche Gesichter. . . "

Jo Hanns Rösler