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Das Märchen von der Intelligenz

Es war einmal ein Mann, der hatte in der Schule fleißig gelernt, brav auf die gehört, die das Sagen hatten und dafür manche Belobigung erfahren. Hinter der nicht sehr hohen Stirn seines nicht sehr großen Kopfes befanden sich nicht sehr viele jener Zellen, die das Kombinieren von Daten ermöglichen und damit kreatives Denken. An ihrer Stelle saßen um so mehr Zellen, die dazu dienen, Gehörtes, Gesehenes und Gelesenes zu speichern. Sein Gedächtnis war erstaunlich und wurde durch Training immer erstaunlicher.

Da sich die meisten Ausbildungen mehr oder weniger darauf beschränken, Fachwissen in die Köpfe der Kandidaten einzufüttern, um es in Prüfungen abzufragen, mußte er, der nichts vergessen konnte, hier zwangsläufig brillieren. Er tat es mit Genuß.

Überall bekam er die besten Noten. Wer die besten Noten hatte, galt nicht als der beste Merker, sondern seltsamerweise als der Intelligenteste.

Mit diesem Etikett versehen, trat der Primus ins Leben. Seine glänzenden Zeugnisse machten Eindruck. Überall rannte er offene Türen ein, bewies Kondition, wurde nicht müde, alle Welt mit seinem Wissen zu verblüffen oder nur zu bluffen. Zum Beispiel, Wenn er Reden hielt. Das übte er fleißig, gab Aggressionen als Anliegen aus und steigerte damit seine amtlich bestätigte Intelligenz zum Nimbus. Ein naheliegender Verdacht wurde laut: Wer so viel weiß, der kann auch führen. Er kam zur Macht. Kaum hatte er das Sagen, geschah jedoch etwas Merkwürdiges mit ihm. Er ließ sich gehen, war zeitweise außer Kontrolle, tat Dinge, die ein Mächtiger nicht tun sollte. Sein Verhalten wirbelte Staub auf. Bald sah er sich in zwielichtige Affären verwickelt, mußte dementieren, klagen, ja schwören, worauf er dann wieder dementieren mußte. Akten verschwanden auf unerklärliche Weise, und es wurde von privaten Eskapaden gemunkelt.

Doch weil es bei der Verteidigung unter anderem auf die Fülle der Argumente und deren flüssigen Vortrag ankommt, gelang es ihm, dank seinem glänzenden Gedächtnis, immer wieder, Mißverständnisse, Fehlinterpretationen und Spurenelemente von Korrektheit nachzuweisen. Freunde und Abhängige konnten jedesmal aufatmen und argumentierten arrogant:
Ein Mann von solcher Intelligenz kann gar nichts Zwielichtiges tun, weil das bei seiner Stellung unintelligent wäre!
Den Dummen leuchtete das ein. Als die Zwischenfälle sich weiter häuften, funktionierten die Freunde seine Schwächen zum Image um, indem sie ihnen andere Namen gaben: Temperament, Vitalität, Dynamik. Fortan konnte er bei Fehltritten mit Beifall rechnen. Man überhäufte ihn mit Ehren, Ämtern und Orden.

Da nichts ihn umbrachte, wurde er noch stärker, stilisierte sich zum belebenden Element, zum Hecht im Karpfenteich, zum Original. Auch die Intelligenten halfen mit. Sie überschätzten seine Kraft und ernannten ihn zum Buhmann.
Damit aber steigerten sie seine Popularität nur noch mehr, schürten die Legende vom braven Sohn des Volkes, dem Neider unrecht tun.

Er stand im Zenit. Unerschütterlich. Jetzt erwartete man von ihm, dem Allerintelligentesten, die Patentlösung für alle Probleme. Doch die Zellen in seinem Kopf lieferten nur Daten. Erstaunlich viele, aber nur Daten. Auch war seine Rede nicht mehr fließend, sondern stockend, manchmal stotternd.

Die Intelligenten merkten das sofort. Statt ihn ruhig abzuschreiben, werteten sie ihn durch neue Angriffe auf, und hinderten damit die Dummen, die Wende zu begreifen. Er blieb an der Spitze. Freund und Feind überließen ihm die Zerstörung seines Nimbus jetzt ganz allein. Er schaffte es. In zähem Entgleisen isolierte er sich, Schritt für Schritt. Gedächtnis und Intelligenz sind eben zweierlei. Ihre Verwechslung aber ist in Traditionen verankert. Unerschütterlich.
Oliver Hassencamp